Übersetzung 3. Aufzug (Thema: Iphigenie auf Tauris)

Eine Übersetzung des Texts des 3. Aufzugs von Iphigenie auf Tauris (Goethe) in modernes Deutsch

1. Hinweise

(Die nachfolgenden Hinweise sind praktisch identisch mit denen zur Übersetzung des ersten Aufzugs.)

Dieser Artikel enthält eine „Übersetzung” des dritten Aufzugs von Iphigenie auf Tauris in modernes Deutsch. Die Übersetzung wurde — so gut es ging — Vers für Vers durchgeführt, sodass die einzelnen Verse jeweils in Goethe-Deutsch und in modernem Deutsch ungefährlich den gleichen Sinn haben sollten. Immer eingehalten werden konnte das nicht. Die Übersetzung hier ist als Vorschlag anzusehen. Sicherlich kann man einige Abschnitte anders übersetzen und vermutlich habe ich bei einigen auch nicht Goethes Intention getroffen (er macht es einem nicht gerade leicht...). Textstellen an denen ich mir besonders unsicher war und die daher mit besonderer Vorsicht zu genießen sind habe ich entsprechend markiert (etwa mit (unsicher) oder (?)). Grundsätzlich kann es auch bei den sonstigen Abschnitten nicht schaden, sich eine eigene Meinung zu bilden. Soweit dies sinnvoll erschien habe ich auch in den Versen zusätzlichen Text oder Wörter ergänzt (so wird z. B. des öfteren aus „Diane” „Göttin Diana”), sodass die Aussage klarer wird. Der Text kann (ohne die Übersetzung) bei gutenberg.org eingesehen werden.

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2. 3. Aufzug, 1. Auftritt

Goethe-Deutsch Modernes Deutsch
Iphigenie.
Unglücklicher, ich löse deine Bande
Zum Zeichen eines schmerzlichern Geschicks.
Die Freiheit, die das Heiligthum gewährt,
Ist, wie der letzte lichte Lebensblick
Des schwer Erkrankten, Todesbote. Noch
Kann ich es mir und darf es mir nicht sagen,
Daß ihr verloren seid! Wie könnt' ich euch
Mit mörderischer Hand dem Tode weihen?
Und niemand, wer es sei, darf euer Haupt,
So lang ich Priesterin Dianens bin,
Berühren. Doch verweigr' ich jene Pflicht,
Wie sie der aufgebrachte König fordert;
So wählt er eine meiner Jungfraun mir
Zur Folgerin, und ich vermag alsdann
Mit heißem Wunsch allein euch beizustehn.
O werther Landsmann! Selbst der letzte Knecht,
Der an den Herd der Vatergötter streifte,
Ist uns in fremdem Lande hoch willkommen:
Wie soll ich euch genug mit Freud' und Segen
Empfangen, die ihr mir das Bild der Helden,
Die ich von Eltern her verehren lernte,
Entgegen bringet und das innre Herz
Mit neuer schöner Hoffnung schmeichelnd labet!
Iphigenie:
Unglücklicher, ich löse deine Ketten (?)
da auf dich ohnehin schlimmeres wartet. (?)
Die Freiheit in diesem Tempel ist
für dich wohl nur der letzte angenehme Lichtblick,
der dir deine baldige Opferungen signalisiert.
Ich kann und darf aber nicht akzeptieren,
dass du schon verloren bist. Wie könnte ich
dich auch auf die Opferung vorbereiten?
Und niemand
außer mir — zumindest so lange ich Priesterin bin — darf
diese Vorbereitungen durchführen. Doch falls ich mich weigere, meine Pflicht zu erfüllen,
so wie es der aufgebrachte König von mir fordert,
wird er einfach eine meiner Jungfrauen zu
meiner Nachfolgerin ernennen. Dann werde
ich nichts mehr für euch beide tun können.
Jemand aus meiner Heimat... es ist schön jemanden
— ganz egal wen —
in einem fremden Land zu treffen, solange er nur aus der eigenen Heimat stammt.
Ich kann euch gar nicht freundlich genug
empfangen, wenn man bedenkt, das ihr mir von den Helden erzählt,
die ich noch aus meiner Kindheit kenne und verehre
und mir so
neue Hoffnung gebt.
Orest.
Verbirgst du deinen Namen, deine Herkunft
Mit klugem Vorsatz? oder darf ich wissen,
Wer mir, gleich einer Himmlischen, begegnet?
Orest:
Du verschweigst deinen Namen und deine genaue Herkunft.
Hast du dafür einen guten Grund? Ich würde gerne wissen,
wer mir da so freundlich begegnet.
Iphigenie.
Du sollst mich kennen. Jetzo sag' mir an,
Was ich nur halb von deinem Bruder hörte,
Das Ende derer, die von Troja kehrend
Ein hartes unerwartetes Geschick
Auf ihrer Wohnung Schwelle stumm empfing.
Zwar ward ich jung an diesen Strand geführt;
Doch wohl erinnr' ich mich des scheuen Blicks,
Den ich mit Staunen und mit Bangigkeit
Auf jene Helden warf. Sie zogen aus,
Als hätte der Olymp sich aufgethan
Und die Gestalten der erlauchten Vorwelt
Zum Schrecken Ilions herabgesendet,
Und Agamemnon war vor allen herrlich!
O sage mir! Er fiel, sein Haus betretend,
Durch seiner Frauen und Ägisthens Tücke?
Iphigenie:
Du wirst meinen Namen noch erfahren. Jetzt erzähl mir bitte zuende,
was dein Bruder nur angefangen hat:
Was ist aus den Rückkehrern von Troja geworden,
die ein so hartes und unerwartetes Schicksal
in ihrem Zuhause erwartete?
Ich geriet zwar schon in jungen Jahren auf diese Insel,
aber ich kann mich noch gut daran erinnern,
wie ich mit Staunen und zugleich auch mit Sorge
auf diese Helden schaute. Sie sind losgezogen
als hätte der Olymp seine Pforten geöffnet
und unsere Urahnen auf
Troja gehetzt.
Agamemnon war der großartigste!
Ich hörte, er sei bereits kurz nach seiner Rückkehr getötet worden?
In einem Hinterhalt, durch seine eigene Frau und Ägisth?
Orest.
Du sagst's!
Orest:
Genau so war es.
Iphigenie.
Weh dir, unseliges Mycen!
So haben Tantals Enkel Fluch auf Fluch
Mit vollen wilden Händen ausgesät!
Und gleich dem Unkraut, wüste Häupter schüttelnd
Und tausendfält'gen Samen um sich streuend,
Den Kindeskindern nahverwandte Mörder
Zur ew'gen Wechselwuth erzeugt! Enthülle,
Was von der Rede deines Bruders schnell
Die Finsterniß des Schreckens mir verdeckte.
Wie ist des großen Stammes letzter Sohn,
Das holde Kind, bestimmt des Vaters Rächer
Dereinst zu sein, wie ist Orest dem Tage
Des Bluts entgangen? Hat ein gleich Geschick
Mit des Avernus Netzen ihn umschlungen?
Ist er gerettet? Lebt er? Lebt Elektra?
Iphigenie:
Mycen ist wirklich ein unglückseliger Ort.
Die Enkel von Tantalon haben den Fluch der Familie
geradezu gehegt und gepflegt.
Wie Unkraut verteilen sie
den Hass in der Familie
sodass auch die Kinder und deren Kinder
zur Wut verdammt sind.
Erzähl mir mehr, vor allem das, was mir schon dein Bruder sagte,
was ich aber vor Aufregung nicht mitgekriegt habe.
Was ist aus dem letzten Sohn der Tantaliden geworden?
Er war immerhin auserkoren, der Rächer des Vaters
zu werden. Was hat Orest getan?
Wurde auch er
mit Hilfe eines Netzes gefangen und dann hinterrücks ermordet?
Wurde er gerettet? Lebt er noch? Was ist aus Elektra geworden?
Orest.
Sie leben.
Orest:
Sie leben.
Iphigenie.
Goldne Sonne, leihe mir
Die schönsten Strahlen, lege sie zum Dank
Vor Jovis Thron! denn ich bin arm und stumm.
Iphigenie:
Wow!
Ich danke
den Göttern, auch wenn ich arm bin und ihnen nichts opfern kann.
Orest.
Bist du gastfreundlich diesem Königs-Hause,
Bist du mit nähern Banden ihm verbunden,
Wie deine schöne Freude mir verräth:
So bändige dein Herz und halt' es fest!
Denn unerträglich muß dem Fröhlichen
Ein jäher Rückfall in die Schmerzen sein.
Du weißt nur, merk' ich, Agamemnons Tod.
Orest:
Du bist der Familie von Tantalos gegenüber sehr gastfreundlich.
Bist du mit der Familie verwandt?
Deine Freude lässt das erahnen.
Aber halt dein Glück gut fest,
denn der Absturz kann kommen
und der kann sehr unangenehm sein.
Es klingt für mich als wüsstest du bisher nur von Agamemnons Tod?
Iphigenie.
Hab' ich an dieser Nachricht nicht genug?
Iphigenie:
Reicht das nicht zu wissen?
Orest.
Du hast des Gräuels Hälfte nur erfahren.
Orest:
Das ist ja nur die Hälfte der Wahrheit.
Iphigenie.
Was fürcht' ich noch? Orest, Elektra leben.
Iphigenie:
Was sollte schon noch sein? Orest und Elektra leben!
Orest.
Und fürchtest du für Klytämnestren nichts?
Orest:
Willst du denn gar nicht wissen was mit Klytämnestra geschehen ist?
Iphigenie.
Sie rettet weder Hoffnung, weder Furcht.
Iphigenie:
Das zu erfahren wird mir weder Hoffnung noch Furcht bringen.
Orest.
Auch schied sie aus dem Land der Hoffnung ab.
Orest:
Sie ist gestorben.
Iphigenie.
Vergoß sie reuig wüthend selbst ihr Blut?
Iphigenie:
Hat sie sich selbst umgebracht?
Orest.
Nein, doch ihr eigen Blut gab ihr den Tod.
Orest:
Nein, sie wurde von einem Verwandten ermordet.
Iphigenie.
Sprich deutlicher, daß ich nicht länger sinne.
Die Ungewißheit schlägt mir tausendfältig
Die dunkeln Schwingen um das bange Haupt.
Iphigenie:
Erzähl weiter, ich will darüber nicht mehr grübeln als notwendig ist.
Die Ungewissheit ist quälend
und lässt mich böses ahnen.
Orest.
So haben mich die Götter ausersehn
Zum Boten einer That, die ich so gern
In's klanglos-dumpfe Höhlenreich der Nacht
Verbergen möchte? Wider meinen Willen
Zwingt mich dein holder Mund; allein er darf
Auch etwas Schmerzlichs fordern und erhält's.
Am Tage, da der Vater fiel, verbarg
Elektra rettend ihren Bruder: Strophius,
Des Vaters Schwäher, nahm ihn willig auf,
Erzog ihn neben seinem eignen Sohne,
Der, Pylades genannt, die schönsten Bande
Der Freundschaft um den Angekommnen knüpfte.
Und wie sie wuchsen, wuchs in ihrer Seele
Die brennende Begier des Königs Tod
Zu rächen. Unversehen, fremd gekleidet,
Erreichen sie Mycen, als brächten sie
Die Trauernachricht von Orestens Tode
Mit seiner Asche. Wohl empfänget sie
Die Königin; sie treten in das Haus.
Elektren gibt Orest sich zu erkennen;
Sie bläs't der Rache Feuer in ihm auf,
Das vor der Mutter heil'ger Gegenwart
In sich zurückgebrannt war. Stille führt
Sie ihn zum Orte, wo sein Vater fiel,
Wo eine alte leichte Spur des frech
Vergoss'nen Blutes oftgewaschnen Boden
Mit blassen ahndungsvollen Streifen färbte.
Mit ihrer Feuerzunge schilderte
Sie jeden Umstand der verruchten That,
Ihr knechtisch elend durchgebrachtes Leben,
Den Übermuth der glücklichen Verräther,
Und die Gefahren, die nun der Geschwister
Von einer stiefgewordnen Mutter warteten.—
Hier drang sie jenen alten Dolch ihm auf,
Der schon in Tantals Hause grimmig wüthete,
Und Klytämnestra fiel durch Sohnes Hand.
Orest:
So ist es wohl der Wille der Götter,
dass gerade ich dir die Botschaft überbringe,
die ich am liebsten
verbergen würde. Entgegen meinem Willen
muss ich es wohl trotzdem erzählen, da du es so wünscht
und ich dir auch schmerzliche Wünsche erfüllen werde.
An dem Tag an dem Agamemnon ermordet wurde hat Elektra Orest versteckt,
was ihm das Leben gerettet hat. Strophius,
der Schwiegervater von Agamemnon, nahm Orest bei sich auf
und erzog ihn zusammen mit seinem eigenen Sohn.
Orest und der Sohn, welcher Pylades hieß, entwickelten
eine tiefe Freundschaft.
Während sie aufwuchsen
wurde auch die Gier nach Rache immer größer.
Verkleidet
gingen sie nach Mycen und gaben vor,
die Nachrichten von Orests Tod mitsamt
seiner Asche überbringen zu wollen. Daraufhin
empfing die Königin sie, und die beiden gelangten in ihr Haus.
Orest gab sich seiner Schwester Elektra zu erkennen.
Diese treibt seine Durst nach Rache wieder an,
die in der Gegenwart der Mutter
etwas schwächer geworden war. Elektra
führt ihn zum Ort an dem sein Vater getötet wurde
und wo noch immer Spuren von
Blut zu sehen sind, obwohl der Boden schon oft gewaschen wurde.
Blass ist das Blut, aber sichtbar.
Wütend erzählt Elektra
jedes noch so kleine Detail der Tat,
wie sie danach unterdrückt im Haus leben musste,
wie glücklich die Verräter waren,
wie groß die Gefahr für die Geschwister
durch die nun so fremde Mutter war (?).
Sie stachelte ihn an
und dabei war er schon wütend.
So kam es, dass Klytämnestra von ihrem eigenen Sohn getötet wurde.
Iphigenie.
Unsterbliche, die ihr den reinen Tag
Auf immer neuen Wolken selig lebet,
Habt ihr nur darum mich so manches Jahr
Von Menschen abgesondert, mich so nah
Bei euch gehalten, mir die kindliche
Beschäftigung, des heil'gen Feuers Gluth
Zu nähren aufgetragen, meine Seele
Der Flamme gleich in ew'ger frommer Klarheit
Zu euern Wohnungen hinaufgezogen,
Daß ich nur meines Hauses Gräuel später
Und tiefer fühlen sollte? Sage mir
Vom Unglücksel'gen! sprich mir von Orest!—
Iphigenie:
Haben vielleicht die Unsterblichen,
die oben auf Wolken leben,
die mich so manches Jahr hierbehalten
und von Menschen abgeschottet haben, haben
sie mich so nah bei sich behalten
und die Arbeit im Tempel verrichten lassen,
haben mir aufgetragen, das Feuer erhalten,
mich in Unwissenheit
belassen (?),
alles nur damit ich von den schlimmen Taten bei mir Zuhause erst später
und dafür umso schmerzlicher erfahre? Erzähl
mir mehr davon, was mit Orest geschah!
Orest.
O, könnte man von seinem Tode sprechen!
Wie gährend stieg aus der Erschlagnen Blut
Der Mutter Geist
Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu:
"Laßt nicht den Muttermörder entfliehn!
Verfolgt den Verbrecher! Euch ist er geweiht!"
Sie horchen auf, es schaut ihr hohler Blick
Mit der Begier des Adlers um sich her.
Sie rühren sich in ihren schwarzen Höhlen,
Und aus den Winkeln schleichen ihre Gefährten,
Der Zweifel und die Reue, leis herbei.
Vor ihnen steigt ein Dampf vom Acheron;
In seinen Wolkenkreisen wälzet sich
Die ewige Betrachtung des Geschehnen
Verwirrend um des Schuld'gen Haupt umher
Und sie, berechtigt zum Verderben, treten
Der gottbesäten Erde schönen Boden,
Von dem ein alter Fluch sie längst verbannte.
Den Flüchtigen verfolgt ihr schneller Fuß;
Sie geben nur um neu zu schrecken Rast.
Orest:
Wenn man doch nur davon erzählen könnte, wie er gestorben ist.
Nachdem die Mutter tot am Boden lag
schien ihr Geist aufzusteigen
und rief die Wesen der Unterwelt dazu auf,
einen Muttermörder nicht einfach davonkommen zu lassen
und dass sie den Verbrecher bestrafen sollen.
Und so horchten die Rachegöttinnen (?) auf,
gierig
zogen sie los
zusammen mit ihren Gefährten:
Dem Zweifel und der Reue.
Und vom Fluss der Unterwelt stieg Dampf auf
und in diesem Dampf verbirgt sich
der Zwang, über die Tat zu grübeln,
der den Schuldigen befallen sollte.
All diese, die das Verderben bringen,
betraten nun die Erde,
von der sie eigentlich durch den Fluch der Familie verbannt waren
und verfolgten nun den Täter.
Und ließen ihn von nun an nicht mehr los.
Iphigenie.
Unseliger, du bist in gleichem Fall,
Und fühlst was er, der arme Flüchtling, leidet!
Iphigenie:
Du Unglücklicher,
du musst dich genauso fühlen wie der Sohn aus dieser Geschichte!
Orest.
Was sagst du mir? was wähnst du gleichen Fall?
Orest:
Was sagst du da? Wie kommst du darauf?
Iphigenie.
Dich drückt ein Brudermord wie jenen; mir
Vertraute dieß dein jüngster Bruder schon.
Iphigenie:
Du hast doch auch einen Brudermord begangen. Dein
jüngster Bruder hat mir das Geheimnis anvertraut, dass du einen deiner Brüder ermordet hast.
Orest.
Ich kann nicht leiden, daß du große Seele
Mit einem falschen Wort betrogen werdest.
Ein lügenhaft Gewebe knüpf' ein Fremder
Dem Fremden, sinnreich und der List gewohnt,
Zur Falle vor die Füße; zwischen uns
Sei Wahrheit!
Ich bin Orest! und dieses schuld'ge Haupt
Senkt nach der Grube sich und sucht den Tod;
In jeglicher Gestalt sei er willkommen!
Wer du auch seist, so wünsch' ich Rettung dir
Und meinem Freunde; mir wünsch' ich sie nicht.
Du scheinst hier wider Willen zu verweilen;
Erfindet Rath zur Flucht und laßt mich hier.
Es stürze mein entseelter Leib vom Fels,
Es rauche bis zum Meer hinab mein Blut,
Und bringe Fluch dem Ufer der Barbaren!
Geht ihr, daheim im schönen Griechenland
Ein neues Leben freundlich anzufangen.
(Er entfernt sich.)
Orest:
Ich ertrage das nicht, einen Menschen wie dich
zu belügen.
Ein Netz aus Lügen hat Pylades
für mich geknüpft. Durchaus geschickt, er kennt sich damit aus.
Mir hat er dieses Netz auferlegt, aber ich bevorzuge es,
dass wir beide die Wahrheit sagen.
Ich bin Orest! Ich bin der, der die Schuld auf sich geladen hat.
Ich sehne mich nach dem Tod.
Egal wie er kommen mag.
Wer auch immer du bist, ich hoffe, dass du gerettet wirst,
genauso wie mein Freund. Ich aber will nicht mehr gerettet werden.
Offenbar wirst du hier gegen deinen Willen gefangen gehalten.
Ihr solltet einen Fluchtplan ausarbeiten und dann ohne mich fliehen.
Vielleicht stürz ich dann von einer Klippe,
woraufhin sich mein Blut im Meer verteilt
und an die Küste geschwemmt wird und so der ganzen Insel Unglück bringt.
Geht nach Hause, geht nach Griechenland.
Fangt dort ein neues Leben an.
(Er geht.)
Iphigenie.
So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter
Des größten Vaters, endlich zu mir nieder!
Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir!
Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die
Mit Furcht und Segenskränzen angefüllt
Die Schätze des Olympus niederbringen.
Wie man den König an dem Übermaß
Der Gaben kennt: denn ihm muß wenig scheinen
Was Tausenden schon Reichthum ist; so kennt
Man euch, ihr Götter, an gesparten, lang
Und weise zubereiteten Geschenken.
Denn ihr allein wißt was uns frommen kann,
Und schaut der Zukunft ausgedehntes Reich,
Wenn jedes Abends Stern- und Nebelhülle
Die Aussicht uns verdeckt. Gelassen hört
Ihr unser Flehn, das um Beschleunigung
Euch kindisch bittet; aber eure Hand
Bricht unreif nie die goldnen Himmelsfrüchte;
Und wehe dem, der ungeduldig sie
Ertrotzend saure Speise sich zum Tod
Genießt. O laßt das lang erwartete,
Noch kaum gedachte Glück nicht, wie den Schatten
Des abgeschiednen Freundes, eitel mir
Und dreifach schmerzlicher vorübergehn!
Iphigenie:
Endlich ist die Erfüllung meiner Wünsche gekommen.
Endlich ist es so weit.
Was für ein atemberaubender Augenblick.
Ich kann ihn kaum erfassen,
so voll von Gefühlen ist er,
wie sie sonst wohl nur die Götter erleben. (?)
Einen König kann man am Übermaß
seiner Geschenke und Almosen erkennen. Denn was für ihn wenig ist,
ist für tausende andere purer Reichtum.
Genauso erkennt man die Götter
an sparsam eingesetzten und von langer Hand geplanten Geschenken.
Ihr wisst genau, was jemanden erfreut.
Ihr könnt in der Zukunft sehen,
was uns Gewohnheit, Glück und Trauer
verbergen. Gelassen hört
ihr euch unsere Bitten an, die Bitten, uns mehr und schneller Geschenke zukommen zu lassen.
Aber ihr
gebt nie welche bevor es nicht an der Zeit dazu ist.
Manche können es nicht abwarten,
und empfinden kein wirkliches Glück bei den Geschenken die sie sich greifen. Durch Mangel an echtem Glück gehen sie zu Grunde.
Bitte lasst mir
das lang ersehnte Glück
der wiedergefundenen Familie
sich nicht in Schmerzen umwandeln. (?)
Orest (tritt wieder zu ihr).
Rufst du die Götter an für dich und Pylades,
So nenne meinen Namen nicht mit eurem.
Du rettest den Verbrecher nicht, zu dem
Du dich gesellst, und theilest Fluch und Noth.
Orest (tritt wieder zu ihr):
Falls du für dich und Pylades zu den Göttern betest,
dann erwähne dabei bitte nicht meinen Namen.
Du wirst mich sowieso nicht retten können,
aber möglicherweise den Fluch und meine Not mit mir teilen.
Iphigenie.
Mein Schicksal ist an deines fest gebunden.
Iphigenie:
Unsere beiden Schicksale sind fest miteinander verbunden.
Orest.
Mit nichten! Laß allein und unbegleitet
Mich zu den Todten gehn. Verhülltest du
In deinen Schleier selbst den Schuldigen;
Du birgst ihn nicht vor'm Blick der Immerwachen,
Und deine Gegenwart, du Himmlische,
Drängt sie nur seitwärts und verscheucht sie nicht.
Sie dürfen mit den ehrnen frechen Füßen
Des heil'gen Waldes Boden nicht betreten;
Doch hör' ich aus der Ferne hier und da
Ihr gräßliches Gelächter. Wölfe harren
So um den Baum, auf den ein Reisender
Sich rettete. Da draußen ruhen sie
Gelagert; und verlass' ich diesen Hain,
Dann steigen sie, die Schlangenhäupter schüttelnd,
Von allen Seiten Staub erregend auf
Und treiben ihre Beute vor sich her.
Orest: Keineswegs. Lass mich alleine
sterben. Egal was du
für mich tust,
die Rachegöttinnen (?) werden es durchschauen.
Deine Nähe
lässt sie zwar Abstand halten, aber verscheucht sie nicht endgültig.
Mit ihren Füßen
dürfen sie diesen heiligen Boden nicht betreten.
Aber dennoch höre ich manchmal aus der Ferne
ihr grässliches Lachen.
Sie warten geduldig auf mich, ihre Beute.
Sie ruhen da draußen.
Sobald ich den heiligen Boden verlassen,
werden sie wieder aktiv werden,
werden zu mir kommen
und mich schließlich vor sich hertreiben.
Iphigenie.
Kannst du, Orest, ein freundlich Wort vernehmen?
Iphigenie:
Darf ich dir etwas freundliches sagen?
Orest.
Spar' es für einen Freund der Götter auf.
Orest:
Spar dir das lieber für jemand auf, der in der Gunst der Götter besser steht.
Iphigenie.
Sie geben dir zu neuer Hoffnung Licht.
Iphigenie:
Die Götter geben dir neue Hoffnung!
Orest.
Durch Rauch und Qualm seh' ich den matten Schein
Des Todtenflusses mir zur Hölle leuchten.
Orest:
Hoffnung? Ich seh nur Dunkelheit
und meinen baldigen Tod vor mir.
Iphigenie.
Hast du Elektren, Eine Schwester nur?
Iphigenie:
Hast du außer Elektra noch eine Schwester?
Orest.
Die Eine kannt' ich; doch die ält'ste nahm
Ihr gut Geschick, das uns so schrecklich schien,
Bei Zeiten aus dem Elend unsers Hauses.
O laß dein Fragen, und geselle dich
Nicht auch zu den Erinnyen; sie blasen
Mir schadenfroh die Asche von der Seele,
Und leiden nicht, daß sich die letzten Kohlen
Von unsers Hauses Schreckensbrande still
In mir verglimmen. Soll die Gluth denn ewig,
Vorsätzlich angefacht, mit Höllenschwefel
Genährt, mir auf der Seele marternd brennen?
Orest:
Ich hatte noch eine ältere Schwester
sie wurde uns aber
entrissen.
Hör auf mit deinen Fragen,
schlag dich nicht auch noch auf die Seite der Rachegöttinnen.
Sie genießen es schon jetzt, mir alles vorzuführen, was schwer auf meiner Seele liegt,
auch die letzten schlechten Erinnerungen
an unsere Kindheit und die Familie
alles was noch übrig ist. Soll das denn ewig
so weiter gehen? Immer wieder neu hervorgeholt werden?
Soll es mich ewig quälen?
Iphigenie.
Ich bringe süßes Rauchwerk in die Flamme.
O laß den reinen Hauch der Liebe dir
Die Gluth des Busens leise wehend kühlen.
Orest, mein Theurer, kannst du nicht vernehmen?
Hat das Geleit der Schreckensgötter so
Das Blut in deinen Adern aufgetrocknet?
Schleicht, wie vom Haupt der gräßlichen Gorgone,
Versteinernd dir ein Zauber durch die Glieder?
O wenn vergoss'nen Mutterblutes Stimme
Zur Höll' hinab mit dumpfen Tönen ruft;
Soll nicht der reinen Schwester Segenswort
Hülfreiche Götter von Olympus rufen?
Iphigenie:
Nein, ich bringe gute Nachrichten!
Etwas Liebe für dich,
die die Qualen hoffentlich verringern wird.
Orest, mein Lieber, erkennst du mich nicht?
Hat dich deine Wut so sehr
verändert und blind gemacht?
Nimmst du nicht etwas wahr,
was du im ganzen Körper spürst? (?)
Als würde jemand aus deiner Familie
zu dir in die Hölle rufen.
Soll nicht eine reine Person
für dich die Hilfe der Götter erbitten? (?)
Orest.
Es ruft! es ruft! So willst du mein Verderben!
Verbirgt in dir sich eine Rachegöttin?
Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich
Das Innerste in seinen Tiefen wendet?
Orest:
Du willst wohl mein Verderben?
Bist du vielleicht auch eine Rachegöttin?
Wer bist du?
Deine Stimme erzeugt ein komisches Gefühl bei mir.
Iphigenie.
Es zeigt sich dir im tiefsten Herzen an:
Orest, ich bin's! Sieh Iphigenien!
Ich lebe!
Iphigenie:
Dein Herz sagt dir, wer ich bin.
Ich bin es: Iphigenie!
Ich lebe noch!
Orest.
Du!
Orest:
Du!
Iphigenie.
Mein Bruder!
Iphigenie:
Bruder!
Orest.
Laß! Hinweg!
Ich rathe dir, berühre nicht die Locken!
Wie von Kreusa's Brautkleid zündet sich
Ein unauslöschlich Feuer von mir fort.
Laß mich! Wie Hercules will ich Unwürd'ger
Den Tod voll Schmach, in mich verschlossen, sterben.
Orest:
Lass mich in Ruhe, weg mit dir!
Berühr nicht mein Haar!
So wie von Krëusas Hochzeit
geht auch von mir Gefahr aus. (?)
Ich will wie Herkules
mit besonderer Schmach und alleine sterben.
Iphigenie.
Du wirst nicht untergehn! O daß ich nur
Ein ruhig Wort von dir vernehmen könnte!
O löse meine Zweifel, laß des Glückes,
Des lang erflehten, mich auch sicher werden.
Es wälzet sich ein Rad von Freud' und Schmerz
Durch meine Seele. Von dem fremden Manne
Entfernet mich ein Schauer; doch es reißt
Mein Innerstes gewaltig mich zum Bruder.
Iphigenie:
Du wirst aber nicht sterben! Ich wünschte, ich
würde wenigstens ein angenehmes Wort von dir hören.
Zerstreu mein ungutes Gefühl. Lass mich das Glück
fühlen, das ich so lange herbeigesehnt habe.
Ich bin ganz gespalten zwischen Freude und Leid.
Du wirkst fremd auf mich
und deine Trauer scheint mich nur noch weiter zu entfernen,
doch gleichzeitig zieht mich auch die Sehnsucht zu dir, denn du bist mein Bruder.
Orest.
Ist hier Lyäens Tempel? und ergreift
Unbändig-heil'ge Wuth die Priesterin?
Orest:
Kann es sein, dass hier der Tempel von Lyäe (?) ist?
Wird die Priesterin etwa wütend?
Iphigenie.
O höre mich! O sieh mich an, wie mir
Nach einer langen Zeit das Herz sich öffnet,
Der Seligkeit, dem Liebsten, was die Welt
Noch für mich tragen kann, das Haupt zu küssen,
Mit meinen Armen, die den leeren Winden
Nur ausgebreitet waren, dich zu fassen!
O laß mich! Laß mich! Denn es quillet heller
Nicht vom Parnaß die ew'ge Quelle sprudelnd
Von Fels zu Fels in's goldne Thal hinab,
Wie Freude mir vom Herzen wallend fließt,
Und wie ein selig Meer mich rings umfängt.
Orest! Orest! Mein Bruder!
Iphigenie:
Hör mir zu! Sieh mich an!
Ich bin überglücklich nach so langer Zeit
endlich jemanden aus der Familie wiederzusehen,
küssen zu können,
und nach so viel Sehnsucht endlich auch
umarmen zu können.
Lass mich das tun! Nur noch heller als das bereits helle
Wasser, das den Berg Parnass
hinunterläuft
ist meine Freude,
die mich komplett erfüllt.
Orest, Orest, mein Bruder!
Orest.
Schöne Nymphe,
Ich traue dir und deinem Schmeicheln nicht.
Diana fordert strenge Dienerinnen
Und rächet das entweihte Heiligthum.
Entferne deinen Arm von meiner Brust!
Und wenn du einen Jüngling rettend lieben,
Das schöne Glück ihm zärtlich bieten willst,
So wende meinem Freunde dein Gemüth,
Dem würd'gern Manne zu. Er irrt umher
Auf jenem Felsenpfade; such' ihn auf,
Weis' ihn zurecht und schone meiner.
Orest:
Schöne Priesterin,
ich misstraue deinen netten Worten.
Die Göttin Diana will nur strenge Dienerinnen,
welche die Entweihung dieses Heiligtums durch mich rächen würden. (?)
Nimm deinen Arm von meiner Brust!
Wenn du jemandem schon deine Liebe entgegen bringen
und sein Glück fördern willst,
dann versuch es lieber bei meinem Freund.
Er ist dafür der würdigere Kandidat als ich.
Irgendwo auf dem Felsenpfad läuft er herum. Such ihn ruhig auf
und rede mit ihm. Aber bitte lass mich in Ruhe.
Iphigenie.
Fasse
Dich, Bruder, und erkenne die Gefundne!
Schilt einer Schwester reine Himmelsfreude
Nicht unbesonnene, strafbare Lust.
O nehmt den Wahn ihm von dem starren Auge,
Daß uns der Augenblick der höchsten Freude
Nicht dreifach elend mache! Sie ist hier,
Die längst verlorne Schwester. Vom Altar
Riß mich die Göttin weg und rettete
Hierher mich in ihr eigen Heiligthum.
Gefangen bist du, dargestellt zum Opfer,
Und findest in der Priesterin die Schwester.
Iphigenie:
Reiß dich zusammen
mein Bruder und versuch, deine Schwester zu erkennen!
Strahle ich nicht wie eine Schwester größte Freude
und größtes Interesse an dir aus?
Versuch endlich, die Realität zu sehen,
sonst wird dieser Augenblick der Freude
noch zu einem schrecklichen Moment.
Ich bin deine längst tot geglaubte Schwester. Vom Altar
hat mich Diana weggeholt, gerettet und
hierher gebracht — in dieses Heiligtum.
Du wurdest gefangen genommen
und findest gerade hier deine Schwester wieder!
Orest.
Unselige! So mag die Sonne denn
Die letzten Gräuel unsers Hauses sehn!
Ist nicht Elektra hier? damit auch sie
Mit uns zu Grunde gehe, nicht ihr Leben
Zu schwererem Geschick und Leiden friste.
Gut, Priesterin! Ich folge zum Altar:
Der Brudermord ist hergebrachte Sitte
Des alten Stammes; und ich danke, Götter,
Daß ihr mich ohne Kinder auszurotten
Beschlossen habt. Und laß dir rathen, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne;
Komm, folge mir in's dunkle Reich hinab!
Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen
Bekämpfend die verwandte Brut verschlingen,
Zerstört sich selbst das wüthende Geschlect;
Komm kinderlos und schuldlos mit hinab!
Du siehst mich mit Erbarmen an? Laß ab!
Mit solchen Blicken suchte Klytämnestra
Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen;
Doch sein geschwungner Arm traf ihre Brust.
Die Mutter fiel!—Tritt auf, unwill'ger Geist!
Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien,
Und wohnet dem willkommnen Schauspiel bei,
Dem letzten, gräßlichsten, das ihr bereitet!
Nicht Haß und Rache schärfen ihren Dolch;
Die liebevolle Schwester wird zur That
Gezwungen. Weine nicht! Du hast nicht Schuld.
Seit meinen ersten Jahren hab' ich nichts
Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester.
Ja, schwinge deinen Stahl, verschone nicht,
Zerreiße diesen Busen, und eröffne
Den Strömen die hier sieden einen Weg!
(Er sinkt in Ermattung.)
Orest:
Nun dann kann die Welt ja
auch noch die letzten Gräueltaten unserer Familie sehen.
Ist vielleicht auch Elektra hier? Dann könnte
auch sie mit uns zu Grunde gehen anstatt ihr
Leben in Trauer und Leid zu führen.
Na gut, ich werde mit dir zum Altar gehen, sodass du mich opfern kannst.
Schließlich ist es ja alte Tradition in unserer Familie, dass wir uns gegenseitig umbringen.
Ich danke den Göttern dafür,
dass ich nicht noch Kinder bekommen habe, die sonst die Tradition weiterführen würden.
Ich rate dir,
schließ die Sonne und die Sterne lieber nicht zu fest ins Herz.
Komm ruhig mit mir in die Dunkelheit!
Wo aus Schwefeldämpfen Drachen werden,
die sich gegenseitig verschlingen. (?)
Wo sich unsere Familie gegenseitig auslöscht.
Komm ohne Kinder und ohne Schuld mit in die Dunkelheit!
Du siehst mich mit Teilnahme an? Hör ruhig auf damit.
Genauso guckte auch Klytämnestra,
versuchte Zugang zu mir zu finden,
direkt bevor ich sie erstach.
Sie fiel zu Boden. Kommt ruhig herbei, Geister!
Kommt ruhig alle herbei!
Schaut diesem wunderbaren Schauspiel zu.
Dem letzten und zugleich grässlichsten unserer Familie.
Diesmal werden wir uns nicht aus Hass und Rache gegenseitig umbringen,
sondern meine liebevolle Schwester
wird dazu gezwungen mich zu ermorden. Wein nicht, du kannst ja nichts dafür.
So lange ich lebe
habe ich dich immer geliebt.
Nimm ruhig deinen Dolch,
stich mir in die Brust,
lass das Blut fließen!
(Er wird ohnmächtig.)
Iphigenie.
Allein zu tragen dieses Glück und Elend
Vermag ich nicht.—Wo bist du, Pylades?
Wo find' ich deine Hülfe, theurer Mann?
(Sie entfernt sich suchend.)
Iphigenie:
Ich halte das nicht allein aus.
Wo ist Pylades?
Ich brauche seine Hilfe.
(Sie geht.)

3. 3. Aufzug, 2. Auftritt

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Orest
(aus seiner Betäubung erwachend und sich aufrichtend).
Noch Einen! reiche mir aus Lethe's Fluthen
Den letzten kühlen Becher der Erquickung!
Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen
Hinweggespült; bald fließet still mein Geist,
Der Quelle des Vergessens hingegeben,
Zu euch, ihr Schatten, in die ew'gen Nebel.
Gefällig laßt in eurer Ruhe sich
Den umgetriebnen Sohn der Erde laben!—
Welch ein Gelispel hör' ich in den Zweigen,
Welch ein Geräusch aus jener Dämmrung säuseln?—
Sie kommen schon, den neuen Gast zu sehn!
Wer ist die Schaar, die herrlich mit einander
Wie ein versammelt Fürstenhaus sich freut?
Sie gehen friedlich, Alt' und Junge, Männer
Mit Weibern; göttergleich und ähnlich scheinen
Die wandelnden Gestalten. Ja, sie sind's,
Die Ahnherrn meines Hauses!—Mit Thyesten
Geht Atreus in vertraulichen Gesprächen;
Die Knaben schlüpfen scherzend um sie her.
Ist keine Feindschaft hier mehr unter euch?
Verlosch die Rache wie das Licht der Sonne?
So bin auch ich willkommen, und ich darf
In euern feierlichen Zug mich mischen.
Willkommen, Väter! euch grüßt Orest,
Von euerm Stamme der letzte Mann;
Was ihr gesät, hat er geerntet:
Mit Fluch beladen stieg er herab,
Doch leichter träget sich hier jede Bürde:
Nehmt ihn, o nehmt ihn in euern Kreis!—
Dich, Atreus, ehr' ich, auch dich Thyesten:
Wir sind hier alle der Feindschaft los.—
Zeigt mir den Vater, den ich nur einmal
Im Leben sah!—Bist du's, mein Vater?
Und führst die Mutter vertraut mit dir?
Darf Klytämnestra die hand dir reichen;
So darf Orest auch zu ihr treten
Und darf ihr sagen: sieh deinen Sohn!—
Seht euern Sohn! Heißt ihn willkommen.
Auf Erden war in unserm Hause
Der Gruß des Mordes gewisse Losung,
Und das Geschlect des alten Tantalus
Hat seine Freuden jenseits der Nacht.
Ihr ruft: Willkommen! und nehmt mich auf!
O führt zum Alten, zum Ahnherrn mich!
Wo ist der Alte? daß ich ihn sehe,
Das theure Haupt, das vielverehrte,
Das mit den Göttern zu Rathe saß.
Ihr scheint zu zaudern, euch wegzuwenden?
Was ist es? Leidet der Göttergleiche?
Weh mir! es haben die Übermächt'gen
Der Heldenbrust grausame Qualen
Mit ehrnen Ketten fest aufgeschmiedet.
Orest:
(Erwacht aus der Ohnmacht, hat Wahnvorstellungen.)
Noch einen Becher! Reich mir aus dem Lethe (Fluss in der Unterwelt) noch einen Becher
mit kühlem Wasser!
Bald ist alles vorbei.
Bald bin ich in der Unterwelt,
werde alles vergessen.
Ich will zu euch, ihr Schatten in den ewigen Nebeln.
Lasst mich eure Ruhe
ebenfalls genießen!
Was hör ich da?
Was hör ich aus der Ferne?
Ah, sie kommen herbei, um mich — ihren neuen Gast — zu sehen!
Wer genau kommt denn da?
Sieht aus wie eine komplette Fürstenfamilie.
Sie kommen friedlich herbei. Alte und junge, Männer und
Frauen. Sie sehen sich ähnlich und gleichen etwas Göttern.
Ja, ich erkenne sie:
Es sind die Ahnen meiner Familie! Selbst Thyest
und Atreus — und sie unterhalten sich friedlich!
Die Söhne laufen vergnügt um sie herum.
Kennen sie keine Feindschaft mehr, nach all der Brutalität?
Wollen sie keine Rache mehr?
Dann bin auch ich bei euch willkommen
und darf mit euch laufen.
Hallo, meine Ahnen! Ich bin Orest,
der letzte Mann, der aus unserer Familie noch übrig ist.
Was ihr angerichtet habt, dass musste ich ausbaden.
Mit dem Fluch der Familie komme ich zu euch.
Doch dieser Fluch ist in der Unterwelt leichter zu ertragen.
Bitte nehmt mich auf!
Ich trete euch mit Respekt entgegen
und will keine Feindschaft mehr.
Ich will meinen Vater sehen,
den ich nur ein einziges mal in meinem Leben zu Gesicht bekam.
Ist das meine Mutter neben dir, Vater?
Darf sie dir die Hand reichen, obwohl sie dich ermorden ließ?
Dann darf ich auch zu ihr treten
und sagen: Sieh mich an,
seht mich an und heißt mich bei euch willkommen!
Als wir noch am Leben waren,
war es Brauch bei uns, sich zu ermorden.
Unsere ganze Familie
war eher den Schattenseiten des Lebens zugeneigt.
Ihr ruft: „Willkommen!” und nehmt mich zu euch auf.
Führt mich zum Ahnherrn Tantalos!
Wo ist er? Ich will ihn sehen,
schließlich ist er so verehrt
und verkehrte sogar mit den Göttern.
Wieso weicht ihr zurück, wieso zögert ihr?
Leidet er etwa?
Oh nein, die Götter
lassen den Helden Tantalos quälen
und in Ketten halten!

4. 3. Aufzug, 3. Auftritt

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Orest.
Seid ihr auch schon herabgekommen?
Wohl Schwester dir! Noch fehlt Elektra:
Ein güt'ger Gott send' uns die Eine
Mit sanften Pfeilen auch schnell herab.
Dich, armer Freund, muß ich bedauern!
Komm mit! komm mit! zu Pluto's Thron,
Als neue Gäste den Wirth zu grüßen.
Orest:
Seid ihr jetzt auch in der Unterwelt?
Dann fehlt ja nur noch Elektra.
Vielleicht sendet ein gütiger Gott
ja auch sie noch hierher.
Es tut mir aber Leid, Pylades, dass auch du gestorben bist.
Kommt mit, zu Pluto!
Wir wollen mal den „Hausherrn” hier begrüßen.
Iphigenie.
Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel
Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf
Den Menschen bringet, und den Abgeschiednen
Nicht leuchten dürfet, rettet uns Geschwister!
Du liebst, Diane, deinen holden Bruder
Vor allem, was dir Erd' und Himmel bietet,
Und wendest dein jungfräulich Angesicht
Nach seinem ew'gen Lichte sehnend still.
O laß den einz'gen Spätgefundnen mir
Nicht in der Finsterniß des Wahnsinns rasen!
Und ist dein Wille, da du hier mich bargst,
Nunmehr vollendet, willst du mir durch ihn
Und ihm durch mich die sel'ge Hülfe geben;
So lös' ihn von den Banden jenes Fluchs,
Daß nicht die theure Zeit der Rettung schwinde.
Iphigenie:
Oh große Götter,
die ihr uns Licht bringt
und den abgeschiedenen
nicht leuchten dürft. Rettet uns bitte!
Göttin Diana, du liebst doch deinen Bruder,
mehr als alles andere auf der Erde und im Himmel.
Du schaust nach ihm
voll Sehnsucht.
Bitte, lass mir meinen einzigen, so lange verlorenen Bruder,
lass ihn nicht wahnsinnig werden.
Und falls ich deinen Willen durch meine Arbeit hier
mittlerweile erfüllt habe, dann bitte,
lass uns die Chance, uns gegenseitig zu helfen.
Nimm den Fluch von ihm,
sodass wir keine Zeit verlieren, die wir gerade so dringend für die Rettung brauchen.
Pylades.
Erkennst du uns und diesen heil'gen Hain
Und dieses Licht, das nicht den Todten leuchtet?
Fühlst du den Arm des Freundes und der Schwester,
Die dich noch fest, noch lebend halten? Faß
Uns kräftig an; wir sind nicht leere Schatten.
Merk' auf mein Wort! Vernimm es! Raffe dich
Zusammen! Jeder Augenblick ist theuer,
Und unsre Rückkehr hängt an zarten Fäden,
Die, scheint es, eine günst'ge Parze spinnt.
Pylades:
Orest, erkennst du uns wieder? Erkennst du diesen heiligen Ort?
Spürst du die Sonne? Sie scheint nicht in der Unterwelt!
Spürst du meinen Arm und den deiner Schwester?
Spürst du, wie wir dich fest halten?
Fass uns ruhig an, wir sind keine Schatten.
Hör auf mich: Du musst dich zusammenreißen.
Wir haben nur wenig Zeit
und unser Fluchtversuch könnte leicht scheitern.
Aber wir haben eine günstige Chance.
Orest (zu Iphigenien).
Laß mich zum Erstenmal mit freiem Herzen
In deinen Armen reine Freude haben!
Ihr Götter, die mit flammender Gewalt
Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt,
Und gnädig-ernst den lang erflehten Regen
Mit Donnerstimmen und mit Windesbrausen
In wilden Strömen auf die Erde schüttet,
Doch bald der Menschen grausendes Erwarten
In Segen auflös't und das bange Staunen
In Freudeblick und lauten Dank verwandelt,
Wenn in den Tropfen frischerquickter Blätter
Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt,
Und Iris freundlich bunt mit leichter Hand
Den grauen Flor der letzten Wolken trennt;
O laßt mich auch in meiner Schwester Armen,
An meines Freundes Brust, was ihr mir gönnt
Mit vollem Dank genießen und behalten.
Es löset sich der Fluch, mir sagt's das Herz.
Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,
Zum Tartarus und schlagen hinter sich
Die ehrnen Thore fernabdonnernd zu.
Die Erde dampft erquickenden Geruch
Und ladet mich auf ihren Flächen ein,
Nach Lebensfreud' und großer That zu jagen.
Orest (zu Iphigenie):
Lass mich zum ersten Mal ohne Trauer
deine Umarmung spüren!
Ihr großen Götter erschafft mit großer Kraft
mächtige Wolken.
Ihr bringt den lang herbeigesehnten Regen
mit lautem Donner und starkem Wind
und lasst viel Wasser fallen.
Und die Furcht der Menschen
löst ihr schon bald auf
wenn ihr Sorge in Freude und Dank verwandelt,
indem sich in den Nassen Blättern
die Strahlen der Sonne wieder spiegeln
und die Göttin Iris mit Leichtigkeit
das Grau durch einen Regenbogen auswechselt. (?)
Ich will die Arme meiner Schwester
und die Brust meines Freundes
mit großen Dank genießen.
Der Fluch ist aufgehoben! Ich spüre es.
Ich höre die Rachegöttinnen abziehen
zurück in die Unterwelt,
mit reichlich Lärm.
Ich fühle mich motiviert,
auszuziehen,
um Lebensfreude zu finden und große Taten zu begehen.
Pylades.
Versäumt die Zeit nicht, die gemessen ist!
Der Wind der unsre Segel schwellt, er bringe
Erst unsre volle Freude zum Olymp.
Kommt! Es bedarf hier schnellen Rath und Schluß.
Pylades:
Wir haben nur wenig Zeit.
Wir sollten diese Gelegenheit nutzen,
um in die Heimat zurück zu gelangen. (?)
Wir müssen nun Entscheidungen treffen.
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