Übersetzung 5. Aufzug (Thema: Iphigenie auf Tauris)

Eine Übersetzung des Iphigenie-Originaltexts des 5. Aufzugs in verständlicheres Deutsch

1. Hinweise

(Die nachfolgenden Hinweise sind praktisch identisch mit denen zur Übersetzung des ersten Aufzugs.)

Dieser Artikel enthält eine „Übersetzung” des fünften Aufzugs von Iphigenie auf Tauris in modernes Deutsch. Die Übersetzung wurde — so gut es ging — Vers für Vers durchgeführt, sodass die einzelnen Verse jeweils in Goethe-Deutsch und in modernem Deutsch ungefährlich den gleichen Sinn haben sollten. Immer eingehalten werden konnte das nicht. Die Übersetzung hier ist als Vorschlag anzusehen. Sicherlich kann man einige Abschnitte anders übersetzen und vermutlich habe ich bei einigen auch nicht Goethes Intention getroffen (er macht es einem nicht gerade leicht...). Textstellen an denen ich mir besonders unsicher war und die daher mit besonderer Vorsicht zu genießen sind habe ich entsprechend markiert (etwa mit (unsicher) oder (?)). Grundsätzlich kann es auch bei den sonstigen Abschnitten nicht schaden, sich eine eigene Meinung zu bilden. Soweit dies sinnvoll erschien habe ich auch in den Versen zusätzlichen Text oder Wörter ergänzt (so wird z. B. des öfteren aus „Diane” „Göttin Diana”), sodass die Aussage klarer wird. Der Text kann (ohne die Übersetzung) bei gutenberg.org eingesehen werden.

Andere Aufzüge: Erster Aufzug, zweiter Aufzug, dritter Aufzug, vierter Aufzug.

2. 5. Aufzug, 1. Auftritt

Goethe-Deutsch Modernes Deutsch
Arkas.
Verwirrt muß ich gestehn, daß ich nicht weiß,
Wohin ich meinen Argwohn richten soll.
Sind's die Gefangnen, die auf ihre Flucht
Verstohlen sinnen? Ist's die Priesterin,
Die ihnen hilft? Es mehrt sich das Gerücht:
Das Schiff, das diese beiden hergebracht,
Sei irgend noch in einer Bucht versteckt.
Und jenes Mannes Wahnsinn, diese Weihe,
Der heil'ge Vorwand dieser Zögrung, rufen
Den Argwohn lauter und die Vorsicht auf.
Arkas:
Ich muss gestehen, dass ich mir nicht sicher bin,
was da genau vor sich geht.
Planen die Gefangenen ihre Flucht?
Ist es vielleicht die Priesterin,
die ihnen dabei hilft? Es geht das Gerücht um,
dass das Schiff mit dem die Gefangenen hergekommen sind,
noch immer hier ist und sich in einer Bucht versteckt hält.
Der Wahnsinn des Mannes, die notwendige Weihung des Bildnisses der Diana,
die Verzögerung aus religiösen Gründen,
das wirkt alles sehr verdächtig. Wir sollten vorsichtig sein.
Thoas.
Es komme schnell die Priesterin herbei!
Dann geht, durchsucht das Ufer scharf und schnell
Vom Vorgebirge bis zum Hain der Göttin.
Verschonet seine heil'gen Tiefen, legt
Bedächt'gen Hinterhalt und greift sie an;
Wo ihr sie findet, faßt sie wie ihr pflegt.
Thoas:
Die Priesterin soll herkommen.
Währenddessen durchsucht ihr die Küste — und beeilt euch, aber seid gründlich.
Durchsucht alles vom Vorgebirge bis zur Küste nahe der Tempelanlage.
Lasst nur die heiligen Orte aus.
Baut auch einen Hinterhalt auf.
Falls ihr sie finden solltet, dann nehmt sie gefangen sobald ihr eine Gelegenheit dazu seht.

3. 5. Aufzug, 2. Auftritt

Goethe-Deutsch Modernes Deutsch
Thoas (allein).
Entsetzlich wechselt mir der Grimm im Busen;
Erst gegen sie, die ich so heilig hielt;
Dann gegen mich, der ich sie zum Verrath
Durch Nachsicht und durch Güte bildete.
Zur Sklaverei gewöhnt der Mensch sich gut
Und lernet leicht gehorchen, wenn man ihn
Der Freiheit ganz beraubt. Ja, wäre sie
In meiner Ahnherrn rohe Hand gefallen,
Und hätte sie der heil'ge Grimm verschont:
Sie wäre froh gewesen, sich allein
Zu retten, hätte dankbar ihr Geschick
Erkannt und fremdes Blut vor dem Altar
Vergossen, hätte Pflicht genannt
Was Noth war. Nun lockt meine Güte
In ihrer Brust verwegnen Wunsch herauf.
Vergebens hofft' ich, sie mir zu verbinden;
Sie sinnt sich nun ein eigen Schicksal aus.
Durch Schmeichelei gewann sie mir das Herz:
Nun widersteh' ich der; so sucht sie sich
Den Weg durch List und Trug, und meine Güte
Scheint ihr ein alt verjährtes Eigenthum.
Thoas (allein):
Ich bin so wütend.
Wütend auf die Priesterin, von der ich glaubte, dass sie ein ehrlicher Mensch sei.
Aber ich bin ja auch selbst schuld. Ich habe sie geradezu zum Verrat angetrieben,
da ich viel zu nachsichtig und freundlich mit ihr umgegangen bin.
Der Mensch gewöhnt sich daran, ein Sklave zu sein
und Befehlen zu gehorchen,
wenn man ihn nur seine ganze Freiheit nimmt. Wäre sie
in die Hände von einem meiner Vorfahren gefallen
und von diesem nicht geopfert worden,
sie wäre vermutlich froh gewesen, überhaupt
zu überleben und hätte widerstandslos
andere Menschen am Altar geopfert.
Sie hätte das als ihre Pflicht angesehen,
auch wenn sie es tatsächlich nur zum Überleben getan hätte. Meine Gutmütigkeit mit ihr aber
lässt jetzt ganz andere Wünsche in ihr aufkommen.
Vergeblich habe ich darauf gehofft, sie als Frau zu gewinnen.
Jetzt will sie ein eigenes Leben führen.
Mit Schmeicheleien hat sie mir den Kopf verdreht
und kaum dass ich gelernt habe, diesen zu widerstehen,
da wechselt sie einfach zu Täuschung und Lügen.
Meine Güte interessiert sie offenbar nicht mehr.

4. 5. Aufzug, 3. Auftritt

Goethe-Deutsch Modernes Deutsch
Iphigenie.
Du forderst mich! was bringt dich zu uns her?
Iphigenie:
Du hast mich gerufen. Wieso kommst du in den Tempel?
Thoas.
Du schiebst das Opfer auf; sag' an, warum?
Thoas:
Du hast die Opferung verschoben. Warum?
Iphigenie.
Ich hab' an Arkas alles klar erzählt.
Iphigenie:
Das habe ich doch Arkas schon erzählt.
Thoas.
Von dir möcht' ich es weiter noch vernehmen.
Thoas:
Ich möchte es aber von dir persönlich hören.
Iphigenie.
Die Göttin gibt dir Frist zur Überlegung.
Iphigenie:
Die Göttin Diana hat dir noch etwas Zeit gegeben, darüber nachzudenken, ob du die Opferung nicht doch noch absagen willst.
Thoas.
Sie scheint dir selbst gelegen, diese Frist.
Thoas:
Diese Zeit zum Überdenken kommt dir aber offenbar sehr gelegen.
Iphigenie.
Wenn dir das Herz zum grausamen Entschluß
Verhärtet ist: so solltest du nicht kommen!
Ein König, der Unmenschliches verlangt,
Find't Diener g'nug, die gegen Gnad' und Lohn
Den halben Fluch der That begierig fassen;
Doch seine Gegenwart bleibt unbefleckt.
Er sinnt den Tod in einer schweren Wolke,
Und seine Boten bringen flammendes
Verderben auf des Armen Haupt hinab;
Er aber schwebt durch seine Höhen ruhig,
Ein unerreichter Gott, im Sturme fort.
Iphigenie:
Falls du dir sowieso sicher bist, diese brutale Opferung durchführen zu lassen,
hättest du gar nicht erst kommen brauchen.
Wenn ein König solch eine grausame Tat verlangt,
dann findet er doch immer genügend Leute, die sich für Privilegien und Geld
die Hände schmutzig machen,
während sich der König selbst aus der Sache raushalten kann.
Von weit weg plant und beschließt er den Tod anderer
und seine Diener sind es,
die das Verderben über die armen Opfer bringen.
So steht der König über den Dingen,
wie ein unerreichbarer Gott.
Thoas.
Die heil'ge Lippe tönt ein wildes Lied.
Thoas:
Die heilige Priesterin regt sich aber sehr auf.
Iphigenie.
Nicht Priesterin! nur Agamemnons Tochter.
Der Unbekannten Wort verehrtest du;
Der Fürstin willst du rasch gebieten? Nein!
Von Jugend auf hab' ich gelernt gehorchen,
Erst meinen Eltern und dann einer Gottheit,
Und folgsam fühlt' ich immer meine Seele
Am schönsten frei; allein dem harten Worte,
Dem rauhen Ausspruch eines Mannes mich
Zu fügen, lernt' ich weder dort noch hier.
Iphigenie:
Nicht die Priesterin, nur die Tochter von Agamemnon.
Als ich eine Unbekannte für dich war hast du geschätzt was ich dir sagte.
Jetzt da du weißt, dass ich aus einer Königsfamilie stamme, da erteilst du mir plötzlich Befehle?
Seit meiner Kindheit habe ich nur gelernt zu gehorchen.
Erst meinen Eltern, später der Göttin Diana.
Und bei diesem Folgeleisten habe ich (?)
mich immer gut gefühlt (?); nur den harten Anweisungen
von rauhen Männern
habe ich nie gelernt, blind Folge zu leisten. Weder Zuhause noch auf dieser Insel.
Thoas.
Ein alt Gesetz, nicht ich, gebietet dir.
Thoas:
Nicht ich bin es, der von dir die Opferung verlangt. Die Tradition ist es.
Iphigenie.
Wir fassen ein Gesetz begierig an,
Das unsrer Leidenschaft zur Waffe dient.
Ein andres spricht zu mir, ein älteres,
Mich dir zu widersetzen, das Gebot,
Dem jeder Fremde heilig ist.
Iphigenie:
Eine Tradition wird nur allzu gerne missbraucht,
um die eigenen Interessen durchzusetzen.
Ich folge einem viel älteren Gebot,
das mich zwingt, deine Anweisungen zu misachten.
Nämlich das Gebot, fremde Menschen gut zu behandeln.
Thoas.
Es scheinen die Gefangnen dir sehr nah
Am Herzen: denn vor Antheil und Bewegung
Vergissest du der Klugheit erstes Wort,
Daß man den Mächtigen nicht reizen soll.
Thoas:
Die Gefangenen
liegen dir offenbar sehr am Herzen. Vor Anteilnahme
vergisst du glatt,
dass man einen König nicht wütend machen sollte.
Iphigenie.
Red' oder schweig' ich, immer kannst du wissen,
Was mir im Herzen ist und immer bleibt.
Lös't die Erinnerung des gleichen Schicksals
Nicht ein verschloss'nes Herz zum Mitleid auf?
Wie mehr denn meins! In ihnen seh' ich mich.
Ich habe vor'm Altare selbst gezittert,
Und feierlich umgab der frühe Tod
Die Knieende; das Messer zuckte schon,
Den lebenvollen Busen zu durchbohren;
Mein Innerstes entsetzte wirbelnd sich,
Mein Auge brach, und--ich fand mich gerettet.
Sind wir, was Götter gnädig uns gewährt,
Unglücklichen nicht zu erstatten schuldig?
Du weißt es, kennst mich, und du willst mich zwingen!
Iphigenie:
Egal ob ich rede oder schweige, du darfst immer wissen, (?)
was ich fühle und fühlen werde. (?)
Wenn man sieht, wie jemand das selbe Schicksal teilt, das einem auch selbst widerfahren ist,
erzeugt das dann nicht Mitleid?
Bei mir gilt das besonders! Ich kann mich selbst in den beiden Gefangenen erkennen!
Ich selbst sollte einst geopfert werden. Ich stand schon vorm Altar,
konnte den Tod bereits um mich spüren,
meine Kniee zitterten, das Messer wurde gezogen,
um mich damit zu erstechen.
Dann passierte etwas merkwürdiges,
ich war auf einmal gerettet.
Die Götter haben mein Leben verschont,
sollte ich jetzt nicht auch das Leben anderer verschonen?
Du weißt das alles und trotzdem willst du mich dazu zwingen, die Männer zu opfern!
Thoas.
Gehorche deinem Dienste, nicht dem Herrn.
Thoas:
Du sollst nur deine Pflicht erfüllen, nicht meinen Kommandos gehorchen.
Iphigenie.
Laß ab! Beschönige nicht die Gewalt,
Die sich der Schwachheit eines Weibes freut.
Ich bin so frei geboren als ein Mann.
Stünd' Agamemnons Sohn dir gegenüber,
Und du verlangtest was sich nicht gebührt:
So hat auch Er ein Schwert und einen Arm,
Die Rechte seines Busens zu verteid'gen.
Ich habe nichts als Worte, und es ziemt
Dem edeln Mann, der Frauen Wort zu achten.
Iphigenie:
Hör auf! Beschönige nicht, dass du
nur versuchst meine Schwäche als Frau zu missbrauchen.
Ich wurde mit der gleichen Willensfreiheit wie ein Mann geboren. (?)
Stünde der Sohn von Agamemnon vor dir
und du würdest etwas derart grausames von ihm verlangen,
dann hätte dieser ein Schwert und einen Arm,
um sich dagegen zu verteidigen.
Aber ich als Frau habe nichts als Worte und
ein edler Mann beachtet das.
Thoas.
Ich acht' es mehr als eines Bruders Schwert.
Thoas:
Ich achte deine Wort mehr als jede Waffe.
Iphigenie.
Das Loos der Waffen wechselt hin und her:
Kein kluger Streiter hält den Feind gering.
Auch ohne Hülfe gegen Trutz und Härte
Hat die Natur den Schwachen nicht gelassen.
Sie gab zur List ihm Freude, lehrt' ihn Künste;
Bald weicht er aus, verspätet und umgeht.
Ja, der Gewaltige verdient, daß man sie übt.
Iphigenie:
Die Wirkung von Waffen wechselt ständig. (?)
Kein kluger Mensch unterschätzt seinen Feind.
Gegen Trotz und Härte
hat die Natur den Schwachen Mittel gegeben.
Sie gab ihm Täuschung, Freude und künstlerische Fähigkeiten (?).
Der Schwache lernte auszuweichen, zu verzögern und zu umgehen.
Auch der Starke sollte diese Fähigkeiten üben.
Thoas.
Die Vorsicht stellt der List sich klug entgegen.
Thoas:
Die Vorsicht ist ein gutes Mittel gegen Täuschungen.
Iphigenie.
Und eine reine Seele braucht sie nicht.
Iphigenie:
Und die Vorsicht erfordert nicht einmal eine reine Seele...
Thoas.
Sprich unbehutsam nicht dein eigen Urtheil.
Thoas:
Du solltest etwas höflicher sein falls du keinen Ärger kriegen willst.
Iphigenie.
O sähest du wie meine Seele kämpft,
Ein bös Geschick, das sie ergreifen will,
Im ersten Anfall muthig abzutreiben!
So steh' ich denn hier wehrlos gegen dich?
Die schöne Bitte, den anmuth'gen Zweig,
In einer Frauen Hand gewaltiger
Als Schwert und Waffe, stößest du zurück:
Was bleibt mir nun, mein Innres zu verteid'gen?
Ruf' ich die Göttin um ein Wunder an?
Ist keine Kraft in meiner Seele Tiefen?
Iphigenie:
Wenn du nur erkennen könntest, wie ich mich innerlich winde,
gegen die schrecklichen Anweisungen die du mir erteilst, (?)
mutig vorzugehen. (?)
Steh ich hier wehrlos vor dir?
Meine Waffe ist die freundliche Bitte,
die in der Hand einer Frau
mächtiger sein kann als ein Schwert. Doch selbst die wehrst du ab.
Wie soll ich mich nun verteidigen?
Soll ich die Göttin Diana um ein Wunder bitten?
Sind meine Worte so kraftlos, dass ich das schon tun muss? (?)
Thoas.
Es scheint, der beiden Fremden Schicksal macht
Unmäßig dich besorgt. Wer sind sie? sprich,
Für die dein Geist gewaltig sich erhebt?
Thoas:
Es wirkt auf mich als würde dir das Schicksal dieser Fremden
außerordentlich nahe gehen. Wer sind sie? Sag mir,
wieso du dich so sehr für sie einsetzt.
Iphigenie.
Sie sind--sie scheinen--für Griechen halt' ich sie.
Iphigenie:
Sie sind — ich meine sie wirken wie — Griechen auf mich.
Thoas.
Landsleute sind es? und sie haben wohl
Der Rückkehr schönes Bild in dir erneut?
Thoas:
Es sind also Landsleute? Ich nehme an,
sie haben bei dir die Sehnsucht nach Rückkehr in die Heimat wieder aufkommen lassen?
Iphigenie (nach einigem Stillschweigen).
Hat denn zur unerhörten That der Mann
Allein das Recht? Drückt denn Unmögliches
Nur Er an die gewalt'ge Heldenbrust?
Was nennt man groß? Was hebt die Seele schaudernd
Dem immer wiederholenden Erzähler?
Als was mit unwahrscheinlichem Erfolg
Der Muthigste begann. Der in der Nacht
Allein das Heer des Feindes überschleicht,
Wie unversehen eine Flamme wüthend
Die Schlafenden, Erwachenden ergreift,
Zuletzt gedrängt von den Ermunterten
Auf Feindes Pferden, doch mit Beute kehrt,
Wird der allein gepriesen? der allein,
Der, einen sichern Weg verachtend, kühn
Gebirg' und Wälder durchzustreifen geht,
Daß er von Räubern eine Gegend säubre?
Ist uns nichts übrig? Muß ein zartes Weib
Sich ihres angebornen Rechts entäußern,
Wild gegen Wilde sein, wie Amazonen
Das Recht des Schwerts euch rauben und mit Blute
Die Unterdrückung rächen? Auf und ab
Steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen:
Ich werde großem Vorwurf nicht entgehn,
Noch schwerem Übel wenn es mir mißlingt;
Allein Euch leg' ich's auf die Kniee! Wenn
Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet;
So zeigt's durch euern Beistand und verherrlicht
Durch mich die Wahrheit!--Ja, vernimm, o König,
Es wird ein heimlicher Betrug geschmiedet;
Vergebens fragst du den Gefangnen nach;
Sie sind hinweg und suchen ihre Freunde,
Die mit dem Schiff am Ufer warten, auf.
Der ält'ste, den das Übel hier ergriffen
Und nun verlassen hat--es ist Orest,
Mein Bruder, und der andre sein Vertrauter,
Sein Jugendfreund, mit Namen Pylades.
Apoll schickt sie von Delphi diesem Ufer
Mit göttlichen Befehlen zu, das Bild
Dianens wegzurauben und zu ihm
Die Schwester hinzubringen, und dafür
Verspricht er dem von Furien Verfolgten,
Des Mutterblutes Schuldigen, Befreiung.
Uns beide hab' ich nun, die Überbliebnen
Von Tantals Haus, in deine Hand gelegt:
Verdirb uns--wenn du darfst.
Iphigenie (nachdem sie einige Zeit geschwiegen hat):
Darf denn nur ein Mann etwas unerhörtes tun?
Darf nur ein Mann unmögliches
wie ein Held wagen?
Welche Taten bezeichnet man als „groß”? Was lässt einen
Geschichtenerzähler auch nach vielen Wiederholungen noch schaudern?
Es sind die Taten, die zu großem Erfolg geführt haben
und von einem sehr mutigen Menschen begonnen wurden. Zum Beispiel jemand, der in der Nacht
ganz alleine in das Lager des Feindes schleicht
dort ein Feuer legt, (?)
welches die Feinde verbrennt (?)
und der von den Überlebenden getrieben (?)
mit einem Pferd und großer Beute davonreitet, (?)
Wird nur ein solcher Held verehrt? Ein Held,
der nicht den sicheren Weg geht, sondern
stattdessen durch Gebirge und Wälder streift,
um diese von Räubern zu befreien.
Bleibt für die Frauen nichts heldenhaftes übrig? Muss eine Frau
ihr angeborenes Recht aufgeben, (?)
brutal gegen Wilde vorgehen — wie eine Amazone —
und euch Männern die Macht rauben und
die Unterdrückung blutig rächen?
Ich denk' schon die ganze Zeit darüber nach, etwas waghalsiges zu tun.
Etwas, das mir Vorwürfe einbringen wird,
vor allem wenn es fehlschlägt.
Trotzdem will ich es wagen und euch daher nun etwas mitteilen.
Falls ihr so wahrheitsliebend seid wie man sich erzählt,
dann müsst ihr mich unterstützen
und dadurch die Wahrheit fördern. Ja, König,
es wurde eine Täuschung vorbereitet.
Die Gefangenen sind nicht mehr im Tempel.
Sie sind bereits bei ihren Freunden,
die ein Schiff an der Küste haben.
Der älteste von den beiden,
dessen Wahnsinn inzwischen geheilt ist (?), heißt Orest
und ist mein Bruder. Der andere ist sein Vertrauter
und Freund seit der Kindheit. Er heißt Pylades.
Apollon soll sie von Delphi aus
mit göttlichen Befehlen hierher geschickt haben. Ihr Auftrag ist,
das Bildnis der Göttin Diana zu stehlen und sie
zum Tempel ihres Bruders Apollon zu bringen.
Er versprach dafür Orest, der von den Rachegöttinnen verfolgt wurde,
Befreiung von der Schuld, die er sich durch die Ermordung seiner Mutter aufgeladen hatte.
Ich habe nun das Schicksal von mir und meinem Bruder — den einzigen, die
von der Familie der Tantaliden noch übrig sind — in deine Hand gelegt.
Opfere uns beide, wenn du es so willst.
Thoas.
Du glaubst, es höre
Der rohe Scythe, der Barbar, die Stimme
Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,
Der Grieche, nicht vernahm?
Thoas:
Du glaubst also, dass
ein Skythe, ein Barbar, sich für
die Wahrheit und die Menschlichkeit interessiert, obwohl nicht einmal
Atreus, der Grieche, sie beachtete?
Iphigenie.
Es hört sie jeder,
Geboren unter jedem Himmel, dem
Des Lebens Quelle durch den Busen rein
Und ungehindert fließt.--Was sinnst du mir,
O König, schweigend in der tiefen Seele?
Ist es Verderben? so tödte mich zuerst!
Denn nun empfind' ich, da uns keine Rettung
Mehr übrig bleibt, die gräßliche Gefahr,
Worein ich die Geliebten übereilt
Vorsetzlich stürzte. Weh! ich werde sie
Gebunden vor mir sehn! Mit welchen Blicken
Kann ich von meinem Bruder Abschied nehmen,
Den ich ermorde? Nimmer kann ich ihm
Mehr in die vielgeliebten Augen schaun!
Iphigenie:
Jeder kann sie beachten.
Egal wo er geboren wurde,
solange er nur
genügend Achtung vor dem Leben hat. — Worüber,
mein König, denkst du schweigend nach?
Denkst du an Mord? Dann töte mich wenigstens zuerst!
Denn jetzt, wo keine Möglichkeit zur Rettung mehr
übrig ist, spüre ich deutlich die Gefahr
in die ich meinen Bruder und seinen Freund so voreilig
gebracht habe. Oh oh, ich werde
sie wohl gefesselt vor mir sehen müssen. Wie soll
ich mich nur von meinem Bruder verabschieden,
wo ich ihn doch werde opfern müssen? Ich werde ihm
nicht mehr in seine Augen schauen können.
Thoas.
So haben die Betrüger künstlich-dichtend
Der lang Verschloss'nen, ihre Wünsche leicht
Und willig Glaubenden, ein solch Gespinnst
Um's Haupt geworfen!
Thoas:
Die beiden haben wohl, geradezu wie Künstler,
der so lange Verschlossenen, die sich so sehr nach ihrer Familie sehnte, dass sie
äußerst leichtgläubig war, eine Lügengeschichte
aufgetischt.
Iphigenie.
Nein! o König, nein!
Ich könnte hintergangen werden; diese
Sind treu und wahr. Wirst du sie anders finden,
So laß sie fallen und verstoße mich,
Verbanne mich zur Strafe meiner Thorheit
An einer Klippen-Insel traurig Ufer.
Ist aber dieser Mann der lang erflehte,
Geliebte Bruder: so entlaß uns, sei
Auch den Geschwistern wie der Schwester freundlich!
Mein Vater fiel durch seiner Frauen Schuld,
Und sie durch ihren Sohn. Die letzte Hoffnung
Von Atreus Stamme ruht auf ihm allein.
Laß mich mit reinem Herzen, reiner Hand,
Hinübergehn und unser Haus entsühnen.
Du hältst mir Wort!--Wenn zu den Meinen je
Mir Rückkehr zubereitet wäre, schwurst
Du mich zu lassen; und sie ist es nun.
Ein König sagt nicht, wie gemeine Menschen,
Verlegen zu, daß er den Bittenden
Auf einen Augenblick entferne; noch
Verspricht er auf den Fall, den er nicht hofft:
Dann fühlt er erst die Höhe seiner Würde,
Wenn er den Harrenden beglücken kann.
Iphigenie:
Nein König, das stimmt nicht.
Ich mag zwar leichtgläubig sein, aber diese beiden
haben die Wahrheit gesagt. Solltest du etwas anderes herausfinden,
dann mach mit ihnen was du willst und
verbanne mich zur Strafe für meine Dummheit
auf eine einsame Felseninsel.
Sollte aber der ältere von beiden
der Bruder sein nach dem ich mich so lang gesehnt habe, dann lass uns frei,
behandle sie so gut wie mich.
Mein Vater wurde von meiner Mutter emordet
und diese wiederum durch ihren Sohn. Orest ist der letzte
männliche Nachkomme von Atreus, der noch übrig ist.
Bitte lasst mich, die ich ein reines Herz habe und die sich nie etwas hat zu Schulden kommen lassen,
wieder zurückkehren, um das Haus der Familie von seinen Sünden zu befreien.
Du musst dein Versprechen halten! Du hast mir zugesagt, dass wenn ich jemals
die Chance auf eine Rückkehr zu meiner Familie haben würde,
würdest du mich gehen lassen. Nun ist diese Gelegenheit da.
Ein König verspricht nicht etwas,
was er nicht einhalten wird, nur um den Bittenden
für kurze Zeit loszuwerden.
Er verspricht auch nichts mit der gleichzeitigen Hoffnung, dass er das Versprechen niemals einlösen muss.
Die wahre Größe seines Amtes spürt er erst dann,
wenn er anderen ihre Wünsche erfüllen kann.
Thoas.
Unwillig, wie sich Feuer gegen Wasser
Im Kampfe wehrt und gischend seinen Feind
Zu Tilgen sucht, so wehret sich der Zorn
In meinem Busen gegen deine Worte.
Thoas:
Das höre ich nur mit Unwillen. Genauso wie sich Feuer gegen Wasser
wehrt,
genauso wehrt sich auch die Wut in mir
gegen das was du gesagt hast.
Iphigenie.
O laß die Gnade, wie das heil'ge Licht
Der stillen Opferflamme, mir, umkränzt
Von Lobgesang und Dank und Freude, lodern.
Iphigenie:
König, zeig mir deine Gnade! Lass sie leuchten wie das Licht
der Opferflamme.
Sodass du Lobgesänge, Dank und Freude empfängst.
Thoas.
Wie oft besänftigte mich diese Stimme!
Thoas:
Wie oft konnte deine Stimme schon meine Wut besänftigen.
Iphigenie.
O reiche mir die Hand zum Friedenszeichen.
Iphigenie:
Reich mir deine Hand als Zeichen für den Frieden!
Thoas.
Du forderst viel in einer kurzen Zeit.
Thoas:
Du forderst zu viel von mir in so kurzer Zeit.
Iphigenie.
Um Gut's zu thun braucht's keiner Überlegung.
Iphigenie:
Man muss nicht lange überlegen, um Gutes zu tun.
Thoas.
Sehr viel! denn auch dem Guten folgt das Übel.
Thoas:
Doch, sogar sehr viel. Auf gute Taten können schnell schlechte Nachrichten folgen.
Iphigenie.
Der Zweifel ist's, der Gutes böse macht.
Bedenke nicht; gewähre, wie du's fühlst.
Iphigenie:
Der Zweifel ist es, der aus eigentlich guten Entscheidungen böse macht.
Denk nicht darüber nach, sondern handle einfach nach Gefühl!

5. 5. Aufzug, 4. Auftritt

Goethe-Deutsch Modernes Deutsch
Orest (nach der Scene gekehrt).
Verdoppelt eure Kräfte! Haltet sie
Zurück! nur wenig Augenblicke! Weicht
Der Menge nicht, und deckt den Weg zum Schiffe
Mir und der Schwester.
(Zu Iphigenien ohne den König zu sehen.)
Komm, wir sind verrathen.
Geringer Raum bleibt uns zur Flucht. Geschwind!
(Er erblickt den König.)
Orest (kommt in den Tempel, ruft zunächst nach draußen (?)):
Haltet noch etwas durch, meine Freunde! Ihr dürft nicht
zurückweichen! Gleich haben wir es geschafft! Haltet
den Weg zum Schiff für
mich und meine Schwester frei!
(Zu Iphigenie, ohne den König zu sehen.)
Komm mit, jemand hat uns verraten.
Es bleibt nur noch wenig Zeit für unsere Flucht. Beeil dich!
(Er sieht den König.)
Thoas (nach dem Schwerte greifend).
In meiner Gegenwart führt ungestraft
Kein Mann das nackte Schwert.
Thoas (greift nach seinem Schwert):
In meiner Gegenwart zieht
kein Mann ungestraft sein Schwert.
Iphigenie.
Entheiliget
Der Göttin Wohnung nicht durch Wuth und Mord.
Gebietet euerm Volke Stillstand, höret
Die Priesterin, die Schwester.
Iphigenie:
Entheiligt
nicht den Tempel der Göttin durch Wut und Mord.
Befehlt euren Männern, den Kampf einzustellen.
Hört auf die Priesterin und Schwester!
Orest.
Sage mir!
Wer ist es, der uns droht?
Orest:
Sag mir
wer dieser Kerl ist, der uns da droht?
Iphigenie.
Verehr' in ihm
Den König, der mein zweiter Vater ward!
Verzeih mir, Bruder! doch mein kindlich Herz
Hat unser ganz Geschick in seine Hand
Gelegt. Gestanden hab' ich euern Anschlag
Und meine Seele vom Verrath gerettet.
Iphigenie:
Zeig ihm Respekt,
denn er ist der König, der für mich seit meiner Ankunft auf dieser Insel zu einem zweiten Vater wurde.
Verzeih mir bitte Orest, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten
und unser Schicksal in seine Hand
gelegt. Ich habe euren Plan gestanden
und mich selbst so davor bewahrt, den König zu verraten.
Orest.
Will er die Rückkehr friedlich uns gewähren?
Orest:
Und, will er uns die friedliche Rückkehr nach Hause erlauben?
Iphigenie.
Dein blinkend Schwert verbietet mir die Antwort.
Iphigenie:
Solange du dein Schwert hältst kann ich dir darauf nicht antworten.
Orest (der das Schwert einsteckt).
So sprich! Du siehst, ich horche deinen Worten.
Orest (steckt das Schwert ein):
Nun sag schon. Wie du siehst hör ich dir zu.

6. 5. Aufzug, 5. Auftritt

Goethe-Deutsch Modernes Deutsch
Pylades.
Verweilet nicht! Die letzte Kräfte raffen
Die Unsrigen zusammen; weichend werden
Sie nach der See langsam zurückgedrängt.
Welch ein Gespräch der Fürsten find' ich hier!
Dieß ist des Königes verehrtes Haupt!
Pylades:
Beeilt euch! (?) Unsere Freunde müssen schon ihre letzten Kräfte
zusammenraffen. Sie werden
langsam zum Ufer zurückgedrängt.
Was für ein Gespräch führt ihr hier eigentlich?
Das ist ja der König!
Arkas.
Gelassen, wie es dir, o König, ziemt,
Stehst du den Feinden gegenüber. Gleich
Ist die Verwegenheit bestraft; es weicht
Und fällt ihr Anhang, und ihr Schiff ist unser.
Ein Wort von dir, so steht's in Flammen.
Arkas:
König, wie es deinem Amt gebührt, stehst du mit Gelassenheit
vor deinen Feinden.
Gleich werden wir sie für ihren verwegenen Fluchtplan bestraft haben.
Ihre Freunde fallen oder weichen zurück. Auch ihr Schiff haben wir bald erobert.
Gib den Befehl und wir setzen es sofort in Brand.
Thoas.
Geh!
Gebiete Stillstand meinem Volke! keiner
Beschädige den Feind, so lang wir reden.
(Arkas ab.)
Thoas:
Geh, Arkas!
Gib unseren Soldaten den Befehl, die Kämpfe einzustellen.
Niemand soll sterben oder verletzt werden so lange wir hier reden.
(Arkas geht.)
Orest.
Ich nehm' es an. Geh, sammle, treuer Freund,
Den Rest des Volkes; harret still, welch Ende
Die Götter unsern Thaten zubereiten.
(Pylades ab.)
Orest:
Diesem kurzen Waffenstillstand stimme ich zu. Pylades, geh und zieh unsere Freunde zusammen,
jeden der noch übrig ist. Sie sollen nicht kämpfen, sondern
abwarten, welches Ende die Götter für uns vorgesehen haben.
(Pylades geht.)

7. 5. Aufzug, 6. Auftritt

Goethe-Deutsch Modernes Deutsch
Iphigenie.
Befreit von Sorge mich, eh' ihr zu sprechen
Beginnet. Ich befürchte bösen Zwist,
Wenn du, o König, nicht der Billigkeit
Gelinde Stimme hörest; du, mein Bruder,
Der raschen Jugend nicht gebieten willst.
Iphigenie:
Bevor ihr mit dem Gespräch beginnt, befreit mich zunächst von meiner Sorge.
Ich befürchte, dass schlimme Streitigkeiten zwischen euch ausbrechen werden,
wenn du, König, nicht zu Großzügigkeit (?) bereit bist
und wenn du, mein Bruder,
nicht deine Lust zu kämpfen zurückhältst.
Thoas.
Ich halte meinen Zorn, wie es dem Ältern
Geziemt, zurück. Antworte mir! Womit
Bezeugst du, daß du Agamemnons Sohn
Und Dieser Bruder bist?
Thoas:
Ich halte meinen Zorn zurück, so wie es sich für einen älteren
Mann gehört. Antworte mir! Womit
kannst du beweisen, dass du Agamemnons Sohn
und der Bruder von Iphigenie bist.
Orest.
Hier ist das Schwert,
Mit dem er Troja's tapfre Männer schlug.
Dies nahm ich seinem Mörder ab und bat
Die Himmlischen, den Mut und Arm, das Glück
Des großen Königes mir zu verleihn,
Und einen schönern Tod mir zu gewähren.
Wähl' einen aus den Edeln deines Heers
Und stelle mir den Besten gegenüber.
So weit die Erde Heldensöhne nährt,
Ist keinem Fremdling dies Gesuch verweigert.
Orest:
Ich habe hier das Schwert,
das Agamemnon verwendete, um die mutigen Kämpfer von Troja zu besiegen.
Ich nahm es den Mördern meines Vaters ab
und bat die Götter, mir auch Agamemnons Mut, seine Stärke und sein Glück
zu verleihen.
Ich bat sie zudem, mir eines Tages einen ehrenvolleren Tod zu gewähren als ihn Agamemnon hatte.
Wähle einen guten Krieger aus deinem Heer,
den besten den du kriegen kannst. Lass mich gegen ihn antreten.
Nirgendswo auf der Erde
würde solch eine Bitte abgelehnt werden.
Thoas.
Dies Vorrecht hat die alte Sitte nie
Dem Fremden hier gestattet.
Thoas:
Solch eine Bitte wurde hier aufgrund der Tradition
noch nie einem Fremden gewährt.
Orest.
So beginne
Die neue Sitte denn von dir und mir!
Nachahmend heiliget ein ganzes Volk
Die edle That der Herrscher zum Gesetz.
Und laß mich nicht allein für unsre Freiheit,
Laß mich, den Fremden, für die Fremden kämpfen.
Fall ich, so ist ihr Urtheil mit dem meinen
Gesprochen; aber gönnet mir das Glück,
Zu überwinden, so betrete nie
Ein Mann dies Ufer, dem der schnelle Blick
Hülfreicher Liebe nicht begegnet, und
Getröstet scheide jeglicher hinweg!
Orest:
Dann soll
von uns heute eine neue Tradition begründet werden.
Wenn das ganze Volk diese nachahmt
wird die edle Tat des Herrschers langsam zum Gesetz.
Lass mich aber nicht nur für meine Freiheit kämpfen,
sondern auch für meine Freunde.
Wenn ich sterbe, dann soll damit auch das Schicksal meiner Freunde besiegelt sein.
Aber überlebe ich,
dann soll
niemals wieder ein Fremder dieses Ufer betreten ohne
liebevoll empfangen zu werden
und wir fahren nach Hause (?).
Thoas.
Nicht unwerth scheinest du, o Jüngling, mir
Der Ahnherrn, deren du dich rühmst, zu sein.
Groß ist die Zahl der edeln, tapfern Männer,
Die mich begleiten; doch ich stehe selbst
In meinen Jahren noch dem Feinde, bin
Bereit, mit dir der Waffen Loos zu wagen.
Thoas:
Junger Mann, ich habe den Eindruck, dass du
den Vorfahren, von denen du vorgibst abzustammen, Ehre bringst.
Ich habe so einige edle und tapfere Soldaten,
die mir zur Seite stehen. Aber ich
bin auch — trotz meines Alters — bereit, mich selbst dem Feind gegenüber zu stellen
und mit dem Schwert zu kämpfen.
Iphigenie.
Mit nichten! Dieses blutigen Beweises
Bedarf es nicht, o König! Laßt die Hand
Vom Schwerte! Denkt an mich und mein Geschick.
Der rasche Kampf verewigt einen Mann:
Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.
Allein die Thränen, die unendlichen
Der überbliebnen, der verlass'nen Frau
Zählt keine Nachwelt, und der Dichter schweigt
Von tausend durchgeweinten Tag- und Nächten,
Wo eine stille Seele den verlornen,
Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich
Zurückzurufen bangt und sich verzehrt.
Mich selbst hat eine Sorge gleich gewarnt,
Daß der Betrug nicht eines Räubers mich
Vom sichern Schutzort reiße, mich der Knechtschaft
Verrathe. Fleißig hab ich sie befragt,
Nach jedem Umstand mich erkundigt, Zeichen
Gefordert, und gewiß ist nun mein Herz.
Sieh hier an seiner rechten Hand das Mahl
Wie von drei Sternen, das am Tage schon,
Da er geboren ward, sich zeigte, das
Auf schwere That, mit dieser Faust zu üben,
Der Priester deutete. Dann überzeugt
Mich doppelt diese Schramme, die ihm hier
Die Augenbraune spaltet. Als ein Kind
Ließ ihn Elektra, rasch und unvorsichtig
Nach ihrer Art, aus ihren Armen stürzen.
Er schlug auf einen Dreifuß auf--Er ist's--
Soll ich dir noch die Ähnlichkeit des Vaters,
Soll ich das innre Jauchzen meines Herzens
Dir auch als Zeugen der Versichrung nennen?
Iphigenie:
Nein! Ein so blutiger Beweis
ist nicht nötig, König. Greift nicht
zum Schwert! Denkt an mich und mein Schicksal!
Ein Kampf verewigt einen Mann:
Er stirbt schnell und wird anschließend ehrenvoll gefeiert.
Aber die Tränen
der zurückgelassenen Frau,
die tauchen nicht in den Liedern über den Heldentod auf. Auch der Dichter
erwähnt nicht die Qualen,
welche diese spürt, die
sich vergeblich ihren Freund oder Mann
wieder zurückwünscht und daran zu Grunde geht.
Ich hatte eine Sorge gespürt, die mich davor warnte, (?)
dass eine Täuschung — wie sie von einem Räuber verwendet wird — (?)
mich nicht von diesem sicheren Ort wegbringen sollte. (?)
Ich habe die beiden Fremden ausgiebig befragt,
mich nach der Familie erkundigt, Zeichen ihrer Herkunft
eingefordert und bin mir inzwischen sicher, dass die beiden wirklich mein Bruder und sein Freund sind.
An seiner rechten Hand hat er ein Mahl,
das so ähnlich aussieht wie drei Sterne. Schon am Tag
seiner Geburt konnte man es sehen.
Das Kind werde mit dieser Hand große Taten vollbringen,
deutete der Priester aus dem Mahl.
Außerdem hat er eine Schramme,
die ihm eine der Augenbrauen spaltet. Er hatte sie bereits als kleines Kind bekommen.
Elektra ließ ihn nämlich einmal
aus ihren Armen fallen — sie ist eher unvorsichtig.
Er schlug fabei gegen ein Möbelstück. Ja, es ist Orest.
Ich kann dir auch die Ähnlichkeit zu seinem Vater beschreiben.
Oder wie wäre es mit der Freude, die ich bei seinem Anblick spüre?
Soll ich auf die beiden Punkte auch noch eingehen?
Thoas.
Und hübe deine Rede jeden Zweifel
Und bändigt' ich den Zorn in meiner Brust:
So würden doch die Waffen zwischen uns
Entscheiden müssen; Frieden seh' ich nicht.
Sie sind gekommen, du bekennest selbst,
Das heil'ge Bild der Göttin mir zu rauben.
Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an?
Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge
Den fernen Schätzen der Barbaren zu,
Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern;
Doch führte sie Gewalt und List nicht immer
Mit den erlangten Gütern glücklich heim.
Thoas:
Auch wenn deine Rede jeden Zweifel beseitigen
und zugleich meinen Zorn bändigen würde —
das würde nicht wirklich etwas ändern. Noch immer würden die Schwerter
die Entscheidung bringen. Ich sehe keinen Weg wie das ganze friedlich ausgehen kann.
Schließlich sind sie gekommen,
um das Bildnis der Göttin Diana von der Insel zu stehlen.
Soll ich dabei etwa tatenlos zusehen?
Es ist doch für Griechen typisch,
die Schätze von „Barbaren” zu rauben,
seien es nun goldene Felle, Pferde oder schöne Töchter.
Allerdings haben Gewalt und Täuschungen nicht immer gereicht,
um sie — mitsamt der Schätze — wieder heil nach Hause zu bringen.
Orest.
Das Bild, o König, soll uns nicht entzweien!
Jetzt kennen wir den Irrthum, den ein Gott
Wie einen Schleier um das Haupt uns legte,
Da er den Weg hierher uns wandern hieß.
Um Rath und um Befreiung bat ich ihn
Von dem Geleit der Furien; er sprach:
"Bringst du die Schwester, die an Tauris Ufer
Im Heiligthume wider Willen bleibt,
Nach Griechenland, so löset sich der Fluch."
Wir legten's von Apollens Schwester aus,
Und er gedachte dich! Die strengen Bande
Sind nun gelös't; du bist den Deinen wieder,
Du Heilige, geschenkt. Von dir berührt,
War ich geheilt; in deinen Armen faßte
Das Übel mich mit allen seinen Klauen
Zum letztenmal und schüttelte das Mark
Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's
Wie eine Schlange zu der Höhle. Neu
Genieß ich nun durch dich das weite Licht
Des Tages. Schön und herrlich zeigt sich mir
Der Göttin Rath. Gleich einem heil'gen Bilde,
Daran der Stadt unwandelbar Geschick
Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist,
Nahm sie dich weg, dich Schützerin des Hauses;
Bewahrte dich in einer heil'gen Stille
Zum Segen deines Bruders und der Deinen.
Da alle Rettung auf der weiten Erde
Verloren schien, gibst du uns alles wieder.
Laß deine Seele sich zum Frieden wenden,
O König! Hindre nicht, daß sie die Weihe
Des väterlichen Hauses nun vollbringe,
Mich der entsühnten Halle wiedergebe,
Mir auf das Haupt die alte Krone drücke!
Vergilt den Segen, den sie dir gebracht,
Und laß des nähern Rechtes mich genießen!
Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm,
Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele
Beschämt, und reines kindliches Vertrauen
Zu einem edeln Manne wird belohnt.
Orest:
König, das Bildnis der Göttin soll nicht das Problem sein.
Wir kennen ja jetzt den Irrtum, den ein Gott
bei uns verursacht hat
und den er auf dem Weg hierher nicht klärte (?).
Ich hatte Apollon um guten Rat und um Befreiung
von den Rachegöttinnen gebeten. Er sagte mir:
„Wenn du die Schwester, die am Ufer der Insel Tauris
entgegen ihren Willen in der Tempelanlage bleiben muss,
nach Griechenland bringst, dann wird der Fluch verschwinden.”
Wir dachten, dass er damit seine eigene Schwester, Göttin Diana, meinte.
Dabei hatte er an dich gedacht, Iphigenie! Deine Bindung an
diese Insel ist nun aufgehoben (?). Du bist wieder bei deiner Familie,
du Heilige. Du wurdest uns geschenkt. Du musstest mich nur berühren,
damit ich wieder geheilt war. In deinen Armen wurde ich
von den Übeln der Welt heftig erfasst
und zum letzten Mal aufgewühlt
bevor es endlich zu Ende war
und die Rachegöttinnen in die Unterwelt zurückkehrten.
Durch dich kann ich wieder die Welt genießen.
Wie wunderbar wirkt nun auf mich
der Plan der Göttin Diana. Genauso wie ein Gemälde
von dessen „Schicksal” die Zukunft einer ganzen Stadt (?)
abhing, weil es die Götter so beschlossen hatten, (?)
genauso nahm sie dich uns weg, dabei warst du diejenige im Haus, die alles zusammen hielt.
Sie beschützte dich weit entfernt von Griechenland,
damit du eines Tages deinem Bruder und deiner Familie helfen könntest.
Gerade als es so aussah als wäre das Ende der Familie gekommen,
bringen die Götter dich zu uns zurück.
Unterstütze den Frieden,
König! Verhindere nicht,
dass sie unser Zuhause weiht und damit vom Fluch erlöst,
sodass auch ich wieder zurückkehren darf
und die Krone meines Vaters tragen kann.
Belohne meine Schwester für den Segen, den sie dir gebracht hat
und erlaube ihr, mit ihrem Bruder zu leben!
Gewalt und Täuschung, die Männern sonst Ruhm bringen,
wirken nicht so gut wie die schlichte Liebe zur Wahrheit meiner guten Schwester
mit ihrem kindlichen Vertrauen
zu dir, das von der Welt belohnt werden wird.
Iphigenie.
Denk' an dein Wort, und laß durch diese Rede
Aus einem g'raden, treuen Munde dich
Bewegen! Sieh uns an! Du hast nicht oft
Zu solcher edeln That Gelegenheit.
Versagen kannst du's nicht; gewähr' es bald!
Iphigenie:
Denk an dein Versprechen! Lass diese Rede
von einem ehrlichen, treuen Menschen
auf dich wirken! Sieh uns an! Du hast nicht oft
Gelegenheit dazu, eine solch edle Entscheidung zu treffen.
Du kannst nicht wirklich ablehnen, also stimm bald zu.
Thoas.
So geht!
Thoas:
Dann geht halt!
Iphigenie.
Nicht so, mein König! Ohne Segen,
In Widerwillen scheid' ich nicht von dir.
Verbann' uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte
Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig
Getrennt und abgeschieden. Werth und theuer,
Wie mir mein Vater war, so bist du's mir,
Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.
Bringt der Geringste deines Volkes je
Den Ton der Stimme mir in's Ohr zurück,
Den ich an euch gewohnt zu hören bin,
Und seh' ich an dem Ärmsten eure Tracht:
Empfangen will ich ihn wie einen Gott,
Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,
Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden,
Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen.
O geben dir die Götter deiner Thaten
Und deiner Milde wohlverdienten Lohn!
Leb' wohl! O wende dich zu uns und gib
Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück!
Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an,
Und Thränen fließen lindernder vom Auge
Des Scheidenden. Leb' wohl! und reiche mir
Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte.
Iphigenie:
Nicht auf diese Weise, mein König. Wir wollen deinen Segen.
Ich will nicht, dass du unserer Abreise nur widerwillig zustimmst.
Verbann uns nicht von deiner Insel! Ein Gastreich soll zwischen
unseren Reichen herrschen. Dann sind wir nicht bis in alle Ewigkeit
voneinander getrennt. Genauso wie ich meinen Vater geschätzt und geliebt habe,
so fühle ich auch für dich.
Auch nach meiner Rückreise wird das so bleiben.
Egal wer von deinem Volk kommt,
solange er
eine Nachricht von dir bringt
oder auch nur einen Teil eurer Kleidung trägt
werde ich ihn wie eine Gottheit empfangen.
Ich werde ihm ein gutes Lager einrichten,
mich mit ihm an ein Feuer setzen,
und mich nach dir erkundigen.
Die Götter sollen dich für deine Taten
und deine Milde belohnen!
Leb wohl! Nun wende dich an uns
und sag uns etwas freundliches zum Abschied!
Dann wird die Heimreise umso angenehmer
und es müssen kaum noch Tränen fließen.
Leb wohl und reich mir bitte
noch einmal deine Hand!
Thoas.
Lebt wohl!
Thoas:
Lebt wohl!
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